Mittwoch, 3. Juli 2013

Selbstmordattentäter im Kino (1): Die Motivation der Attentäter

Paradise Now und Alles für meinen Vater sind zwei Filme, die sich auf unterschiedliche Art mit Selbstmordattentaten in Israel auseinandersetzen. Diese Artikelserie geht der Frage nach, wie die Attentäter, die Terrororganisationen und die potentiellen Opfer der Attentate dargestellt werden und inwiefern in beiden Filmen antisemitische Klischees reproduziert werden.

Die Filme

Paradise Now (Regie: Hany Abu-Assad) kam im Jahr 2004 in die Kinos. Er wurde in arabischer Sprache gedreht und ist eine Koproduktion mit palästinensischer, deutscher, niederländischer und französischer Beteiligung. Maßgeblich finanziert wurde der Film unter anderem mit Geldern des deutschen World Cinema Fund, der Fernsehanstalt Arte und des Niederländischen Filmfonds. Der Film lief erfolgreich auf zahlreichen Festivals, gewann unter anderem den Europäischen Filmpreis für das beste Drehbuch, den Golden Globe in der Kategorie "Best Foreign Language Film" und war für den Oscar in der selben Kategorie nominiert.
Bei Alles für meinen Vater (Regie: Dror Zahavi) handelt es sich um eine deutsch-israelische Koproduktion aus dem Jahr 2008. Der Film wurde größtenteils in hebräischer Sprache gedreht. Finanziert wurde er unter anderem durch den Israel Film Fund, den Norddeutschen Rundfunk, die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein sowie die deutsche Filmförderungsanstalt. Auch Alles für meinen Vater lief auf einigen Filmfestivals, gewann unter anderen den Publikumspreis des Internationalen Filmfestivals Moskau, kam aber an den internationalen Erfolg von Paradise Now nicht heran.

Beide Filme weisen Parallelen sowohl in ihrer Ästhetik als auch in ihrer Dramaturgie auf. Der Weg eines bzw. zweier Selbstmordattentäter aus den palästinensischen Autonomiegebieten nach Israel wird gezeigt. Sowohl Paradise Now als auch Alles für meinen Vater weckt auf unterschiedliche Art Empathie mit den Attentätern. In beiden Fällen spielt die Rehabilitierung von in Ungnade gefallenen Vätern eine Rolle.

Es wird zu zeigen sein, inwiefern auf einer Meta-Ebene Antisemitismus in den Filmen verhandelt wird. In diesem Kontext ist die Haltung der Filme zum israelischen Staat und die filmische Darstellung der israelischen Stadt von besonderem Interesse. Ebenso ist die Frage zu stellen, inwiefern die Filme selbst antisemitisch sind, dazu beitragen, antisemitische Vorstellungen beim Publikum zu verfestigen oder selbige zu dekonstruieren.

Die Attentäter

Es gibt sehr unterschiedlichen Thesen zur Frage, was Menschen motiviert Selbstmordattentate zu verüben. Im Sammelband What Motivates Suicide Bombers? versammelt Herausgeber Lauri S. Friedman exemplarische Essays als Stellvertreter unterschiedlicher und sich zum Teil gegenseitig widersprechender Erklärungsansätze. Dawud Gholamasad sieht in der Planung und Durchführung von Selbstmordattentaten eine selbstwertsteigerndes Verhalten islamisch geprägter Menschen. Für die Aufrechterhaltung, den Ausbau und die Verteidigung ihrer positiven Selbstbewertung, seien sie bereit ihr Leben zu opfern.

Als Said (Kais Nashif) im Film Paradise Now mitgeteilt wird, dass er sich am folgenden Tag in Tel Aviv zusammen mit seinem Freund Khaled (Ali Suliman) in die Luft sprengen soll, antwortet er auf die Frage, ob er bereit sei, mit: "Ja. Ich will es, wenn Gott es will. (...) Dem Himmel sei dank." In einem späteren Selbstgespräch, das Said unter äußerster Anspannung führt, sagt er sich: "Schicksal ist Schicksal. Es gibt keine andere Lösung. Es ist so. Gottes Wille."

Diese Aussagen unterstützen die These von Peter David, wonach der Islam die entscheidende Motivation für das verüben von Selbstmordattentaten ist. Er führt dies auf das Konzept des heiligen Krieges in Verbindung mit der im Unterschied zu den meisten christlichen Kirchen eher dezentralen Organisationsform diverser islamischer Strömungen zurück. Diese begünstigen Machtkämpfe zwischen offiziellen Repräsentanten, spirituellen sowie politisch-islamistischen Gruppen, wobei letztere mit ihren Konzepten insbesondere in politischen Fragen zum Teil eine große Breitenwirkung erreichen.

Doch Religion ist nicht der einzige Grund für das Handeln der Attentäter in Paradise Now und erscheint zumindest gleichberechtigt mit einer sich politisch artikulierenden Motivation. Wie beide Motivationen verwoben sind, wird in einem emotional geführten Streitgespräch zwischen Khaled, jenem der beiden Attentäter der sich zum Schluss gegen das Attentat entscheidet, und der Menschenrechtsaktivistin Suha (Lubna Azabal) deutlich:
Suha: Seid ihr verrückt? Warum macht ihr das?
Khaled: Weil es keine andere Lösung gibt. Man kann uns im Leben die Würde nehmen, aber nicht im Tod.
Suha: Wenn du soweit gehst für die Gleichberechtigung zu töten und selbst dein Leben geben willst, dann begreife ich nicht, warum du diese Kraft nicht eher einsetzt um friedliche Wege zu finden.
(...)
Khaled: Ohne Kampf keine Freiheit. Irgendjemand muss es ja tun. Opferbereitschaft gegen das Unrecht.
Suha: Opferbereitschaft? Ihr wollt Rache nehmen. Du tötest und wirst genau wie sie [die Israelis, Anm.]. Wo bleibt denn da der Unterschied, der zwischen Opfer und Täter?
Khaled: Der Unterschied ist, dass man uns nur eine Art zu kämpfen lässt. Wenn wir Flugzeuge hätten wie sie, sähe es anders aus. Dann wären Märtyrer nicht die einzige Chance.
Suha: Es wird immer so sein, dass Israel durch seine vielen Waffen stärker ist als ihr und du allein bist ihnen sowieso nicht gewachsen.
Khaled: Ja, vielleicht sind sie im Leben mächtiger, aber nicht im Tod. Auf uns wartet danach das Paradies.
Suha: Paradies? Unsinn. Das existiert nur in deinem Kopf (schlägt ihn mit der flachen Hand auf die Stirn) sonst nirgens.
Khaled: Gott, das will ich nicht gehört haben. Das will ich nicht gehört haben! Gott möge dir verzeihen.
Khaled argumentiert die Notwendigkeit des Selbstmordattentats zunächst politisch. Das Selbstopfer lässt sich aber nur durch ein imaginiertes besseres Leben nach dem Tod als rationale Handlung darstellen. Dies entspricht im Wesentlichen der These von Raphael Israeli, einem früheren Offizier der israelischen Armee, wonach das Versprechen eines besseren Lebens nach dem Tod die zentrale Motivation für SelbstmordattentäterInnen und ihre Todessehnsucht darstellt.

Erst vergleichsweise spät im Verlauf der Handlung von Paradise Now stellt sich heraus, dass Said auch ein sehr individuelles Ziel mit dem Anschlag verfolgt. Dieses Ziel ist dem von Tarek (Shredi Jabarin) in Alles für meinen Vater sehr ähnlich: Es geht um die Ehre der Familie, die wiederhergestellt werden soll. In Saids Fall wurde der Vater von einer - im Film nicht näher genannten - Terrororganisation als "Kollaborateur" hingerichtet, als Said 10 Jahre alt war. In einem Monolog gibt Said Auskunft darüber, warum er den "Märtyrer"-Tod sterben will und webt darin auch die Geschichte seines Vaters ein:
"Das widerlichste Verbrechen der Besatzer ist: Sie machen Menschen fügsam, zu Kollaborateuren, sie nutzen deren Schwächen aus. Sie zerstören damit den Widerstand und die Familien auch. (...) Als mein Vater sterben musste, war ich zehn Jahre alt. Er war gut aber wurde eben schwach. Und warum? Wegen der Besatzer. Sie sind schuld. Sie sollen begreifen: Wenn sie Kollaborateure wollen, hat das einen Preis. Den müssen sie dafür auch bezahlen. Ein leben ohne Würde ist wertlos. Und besonders, wenn man jeden Tag zu spüren kriegt wie machtlos man ist, wie gering, wie erniedrigt."
Said gibt die Schuld an der Ermordung des Vaters nicht der dafür verantwortlichen palästinensischen Terrororganisation, sondern der israelischen Politik. Zu dieser Sichtweise gibt es in Paradise Now keinerlei Widerspruch. "Selbst die Verantwortung für die Hinrichtungen so genannter Kollaborateure wird noch Israel in die Schuhe geschoben", kritisiert der Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht. Schuldverlagerung spielt auch in Alles für meinen Vater eine Rolle. Dort bleibt sie allerdings nicht unkommentiert stehen, sondern wird in ihrer Absurdität entlarvt.

Die Motivation Tareks, des Attentäters aus Alles für meinen Vater, variiert, je nach dem Gegenüber, dem/der er selbige Mitteilt. Bevor er vom Tanzim - im Unterschied zu Paradise Now wird die Terrororganisation in Alles für meinen Vater eindeutig benannt - in Tel Aviv ausgesetzt wird, begründet er die Tat seinen Begleitern gegenüber folgendermaßen: "Weil ich von Geburt an nicht mal träumen darf - und so lange wir ihnen nicht weh tun, wird sich auch nichts daran ändern." Diese Begründung Tareks, gibt die These von Ilene R. Prusher wieder, die die Motivation von Selbstmordattentätern in ihrer - so Prusher - hoffnungslosen und verzweifelten Lage ausmacht. Doch diese auswendig gelernt wirkende Begründung, taucht in dieser Form in der weiteren Handlung nicht mehr auf. Ohne Keren (Hili Yalon) mitzuteilen, dass er vor hat, sich in die Luft zu sprengen, referiert er ihr die Motivation für seinen Anschlag:
"Als kleiner Junge war ich im Fußballverein, in Tulkarem. Eines Tages tauchte ein Sportreporter vom Rundfunk bei uns auf. Ein Araber, sehr bekannt, der hat mich gesehen. (...) Und er schlug vor, mich in Nazareth spielen zu lassen. So bin ich dahingekommen. Jeden Tag hat mich mein Vater anderthalb Stunden hin und wieder zurück gefahren. Die Probleme begannen erst mit der Intifada. Es war schwer reinzukommen. Militärsperren. Mein Vater konnte sie nicht immer überreden. Dann sind wir gerannt. So ging das über Monate. Auch Vater hat dann begriffen, dass wir wieder durch die Kontrollen müssen. Aber es wurde immer schwieriger, den Kontrollpunkt zu passieren. Irgendwann wollte ich nicht mehr zum Training. Ich konnte die Demütigungen nicht mehr ertragen. Ich konnte nicht mehr mitansehen, wie sich die Soldaten darüber amüsierten, dass wir bereit waren, alles zu tun, um durchzukommen. Doch Vater wollte nicht aufgeben. Fußball bedeutete ihm alles. Verstehst du? Mein Vater war verrückt nach Fußball. Klar, ich hab auch gern gespielt. Ich fand aber auch andere Sachen gut. Aber er, er liebte den Fußball mehr als seine Violine. Er hatte bei meinen Spielen immer Kopfhörer auf. Konferenzschaltung. Du weißt schon, die Fußballsendung. Um auch ja kein Tor auf irgendeinem Fußballfeld zu verpassen. Und ein Jahr später, als die Bombenanschläge und diese Militäroperationen begannen, konnte man nicht mehr ohne Sondergenehmigung passieren. Also ging er zu den Israelis, um sie zu besorgen. Und so überstanden wir noch ein Jahr. Kurz danach ging das Gerede im Dorf los. Alle sahen uns schief an. Doch Vater hat gesagt: 'Tarek, nicht so schlimm. So ist das. Das geht auch wieder vorbei.' Ich wusste, dass das nicht vorbeigehen würde. Und irgendwann erreichte das Gerede den Tanzim. Das war das Ende. Nazareth konnten wir vergessen."
Im Verlauf von Alles für meinen Vater, wird die Motivation Tareks nicht nur hinterfragt, sondern von seinen - von den Anschlagsplänen freilich nichts ahnenden - GesprächspartnerInnen mit größter Stichhaltigkeit dekonstruiert. Zudem stellt sich heraus, dass sich sein Vater nicht im geringsten für Fußball interessiert. Trotzdem rechtfertigt Tarek, kurz bevor er seinen Sprengstoffgürtel zünden möchte, gegenüber Katz (Shlomo Vishinsky) sein geplantes Handeln abermals mit dem Schicksal seines Vaters:
Katz: Junge, warum machst du das?
Tarek: Katz, geh!
Katz: Ich gehe nirgendwo hin. Ich weiche dir nicht von der Seite, wo du auch hingehst.
Tarek: Katz!
Katz: Was wirst du tun? Mich mit in den Tod nehmen? Das wirst du nicht tun, das weiß ich.
Tarek: Nein.
Katz: So, und all die anderen um uns herum? Hm?
Tarek: Nein.
Katz: Wen willst du also umbringen? Wofür machst du das?
Tarek: Für meinen Vater.
Katz: Das wird ihm nicht helfen.
In Alles für meinen Vater spielt der politische Islam als Motivation nur eine geringe Rolle. Zentrale Motive für Tarek sind die Wiederherstellung der Familienehre und eine Kritik an der israelischen Politik.

Während sich Dror Zahavi mit Alles für meinen Vater nicht scheut oftmals tabuisierte Konflikte - sowohl innerhalb der palästinensischen als auch innerhalb der israelischen Gesellschaft - aufzugreifen, bleibt Paradise Now durchgehend einem manischäischen Weltbild verpflichtet, dass die palästinensischen Autonomiegebiete als ein Reich der Guten und Israel als das Reich der Bösen imaginiert. Damit können Feindbilder bestätigt werden; sozialen Sprengstoff birgt der Film jedoch nicht in sich.

Literatur
David, Peter, "Islam Advocates Suicide Terrorism", in: Friedman, Lauri S., What Motivates Suicide Bombers?, Detroit: Greenhaven 2005.
Gholamasad, Dawud, Selbstbild und Weltsicht islamischer Selbstmord-Attentäter. Tödliche Implikationen eines theozentristischen Menschenbildes unter selbstwertbedrohenden Bedingungen, Berlin: Schwarz 2006.
Israeli, Raphael, "The Promise of an Afterlife Motivates Suicide Bombers", in: Friedman, Lauri S., What Motivates Suicide Bombers?, Detroit: Greenhaven 2005.

Selbstmordattentäter im Kino (2): Die Terrororganisationen
Selbstmordattentäter im Kino (3): Der Blick auf Israel
Selbstmordattentäter im Kino (4): Der Raum der potentiellen Opfer
Selbstmordattentäter im Kino (5): Die Detonation

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen