Donnerstag, 10. Februar 2022

Komödie oder Tragödie? Autosoziobiographische Erzählstrategien in Robert Webbs "How Not To Be A Boy" und Édouard Louis "Wer hat meinen Vater umgebracht"

Sowohl Édouard Louis als auch Robert Webb erwarben sekundäre Bildungsabschlüsse, besuchten Universitäten, wo sie an für ihre späteren Karrieren wichtigen Netzwerke anknüpfen konnten, machten dann aber im Feld der Kunst Karriere. Louis als Autor primär autobiographischer Schriften, in denen er über Klasse, Männlichkeit, Rassismus, Homophobie und ihm zugefügter sexualisierter Gewalt schreibt. Webb als Komiker und Schauspieler, der zunächst mit der Sketchshow The Mitchell and Webb Look (BBC Two) und später durch die Sitcom Peep Show (Channel 4) bekannt wurde. Insbesondere Peep Show lässt sich als Kommentar auf unterschiedliche Ausagierungsstrategien von männlicher Sozialisation lesen.

Die autosoziobiographischen Texte von Édouard Louis und Robert Webb haben gemeinsam, dass beiden Autoren ein sozialer Aufstieg gelungen ist. Geographisch betrachtet sind die Kindheiten beider in der Peripherie verortet. Beide verhandeln Männlichkeit. Ihre Ausgangspositionen waren unterschiedlich. Webb stammt aus einem bildungsfernen ländlichen Haushalt selbstständiger Arbeiter, Louis aus dem Lumpenproletariat. 

Webb legt mit How Not To Be A Boy eine in formaler Hinsicht vergleichsweise konventionelle Autobiographie vor. Er unterteilt sein Werk in zwei Akte. Im ersten Akt sind den Kapiteln jeweils Überschriften vorangestellt, die gesellschaftliche Erwartungshaltungen an Buben thematisieren (u.a. „Boys Aren‘t Shy“, „Boys Are Never Teacher‘s Pet“, „Boys Don‘t Fall In Love (With Other Boys)“, „Boys Are Not Virgins“). Im zweiten Kapitel ist der Bub dann erwachsen geworden und es geht um gesellschaftliche Erwartungshaltungen an Männer (u.a. „Men Are Organized“, „Men Don‘t Need Therapy“, „Men Know Who They Are“).  

Wer hat meinen Vater umgebracht ist in insgesamt drei mit römischen Ziffern betitelte Abschnitte unterteilt. In diesen nutzt Louis teilweise Sterne, um Einzelgeschichten voneinander abzugrenzen bzw. fett gedruckte Jahreszahlen, wo ihm der zeitliche Kontext relevant erscheint. Dem Buch vorangestellt ist eine inszenatorische Anweisung, wie mit dem nachfolgenden Text zu verfahren wäre, würde man ihn als Theatertext zur Aufführung bringen. Abschnitt I startet mit der Frage nach den Gemeinsamkeiten von Rassismus, männlicher Vorherrschaft, Homophobie, Transphobie, Klassenherrschaft, kurz „für alle Phänomene sozialer Unterdrückung“ (S. 11). Antisemitismus nennt Louis nicht, ob er mitgemeint ist, sei dahingestellt. Die Gemeinsamkeit sozialer Unterdrückung sieht Louis jedenfalls – in Anlehnung an die amerikanische Humangeographin Ruth Gilmore – darin, dass sie für bestimmte Teile der Bevölkerung das Risiko eines verfrühten Todes bedeutet. 

Szenen des Tanzes

Sowohl bei Louis als auch bei Webb findet sich jeweils eine Szene, in der es um eine tänzerische Einlage und die Reaktion der Väter auf ebendiese geht. Bei Louis handelt es sich um eine Szene der Kindheit, bei Webb um einen TV-Auftritt als Erwachsener. Louis beschreibt eine Szene, die sich zugetragen hat, als er etwa 9 Jahre alt war: 

 „(…) ich hatte beschlossen, das Konzert einer später aufgelösten Popband namens Aqua nachzustellen. Mehr als eine Stunde lang erfand ich Choreographien, Bewegungen, Gesten, ich gab die Anweisungen. Ich wollte die Sängerin sein, die anderen drei Jungs sollten die Backgroundsänger geben und auf unsichtbaren Gitarren spielen. Ich kam als Erster ins Esszimmer, die anderen folgten mir, ich gab das vereinbarte Signal, und wir fingen an, doch du wandtest sofort den Kopf ab. Ich begriff es nicht. Alle Erwachsenen schauten uns zu, nur du nicht. Ich sang lauter, tanzte mit exaltierten Bewegungen, damit du mich bemerkst, aber du schautest weg. Ich sagte, Papa, schau mal, schau mal, ich kämpfte, aber du sahst nicht hin.“ (S. 18)

Der Kampf um die väterliche Aufmerksamkeit bekommt in der Bühnenfassung von Wer hat meinen Vater umgebracht (Regie: Christina Rast, Museumsquartier Halle E, 23.2.2020) viel Raum. Der Kampf um Beachtung zieht sich dort über mehrere Minuten. Der Text von Louis ist auf drei Schauspieler und zwei Schauspielerinnen aufgeteilt. Einer von ihnen tanzt in Drag auf einem übergroßen Esstisch vor einer übergroßen regungslosen Stoffpuppe in blauer Arbeiterkleidung, die den Vater darstellen soll. Der Vater sitzt, sein Kopf liegt in einer Pose der Erschöpfung auf der Tischplatte, so dass er seinen am Tischende gegenüber tanzenden Sohn nicht sehen kann. Édouard kämpft und kämpft, doch der Vater reagiert nicht auf ihn.

Robert Webb tanzt im Alter von etwa 37 Jahren im Rahmen einer kompetitiven Comic Relief Charity Tanzschow die Schlussszene aus dem erfolgreichen 1980er Jahre Tanzfilm Flashdance. Webb setzt die Schilderung des Auftritts an das Ende der als „Overture“ betitelten Einleitung zu How Not To Be A Boy und schildert die inneren Kämpfe, die er davor und danach zu bestreiten hatte. Kritisch gelesen, propagiert der Film Flashdance eine Ideologie der wohlwollenden Autoritäten – sei es in Form des Chefs, des tanzenden Verkehrspolizisten oder der Fachjury, der die weibliche Hauptfigur am Ende des Filmes gegenübertritt. Die Autoritäten sind auch bei Robert Webb wohlwollende. Zum einen sein langjähriges Vorbild Stephen Fry und zum anderen sein Vater. Beide loben ihn. Letzterer spricht ihm am Abend des Auftrittes (und Sieges) auf die Sprachbox. Webb legt bei der Transkription der Nachricht seines Vaters Wert darauf, seinen nordenglischen Akzent schriftlich abzubilden. Der Klassenwechsel wird bei Webb in weiterer Folge auch als bewusste Veränderung der eigenen Sprache thematisiert. Am Ende der „Overture“ schreibt Webb, er habe seinen Vater nicht zurückgerufen. Als er die Nachricht zum ersten Mal hörte, wusste er nicht, was er tun sollte. Aber nun wisse er, was zu tun sei und deutet mittels dem Schlusssatz „Come with me“ (S. 18) an, es sei die vorliegende Autobiographie, die es angesichts der Reaktion seines Vaters zu schreiben galt.

Louis wird die Aufmerksamkeit des Vaters für seine Choreographie verwehrt. Für Webb ist es eine Stunde des Triumphs und der Bestätigung durch mehrere Autoritäten, sei es die Jury, Stephen Fry oder der Vater. Das Machtgefälle ist deutlich. Louis Drag Performance wird selbstbewusst geplant und vorgetragen, aber ignoriert. Bei Webb gibt es im Vorfeld Ängste und Selbstzweifel, die nach umfangreichen Proben in eine Erfolgsgeschichte münden.

Szenen der Gewalt

In beiden autobiographischen Texten werden Szenen innerfamiliärer Gewalt beschrieben. Webb schildert eindrücklich die von seinem Vater verbreitete Grundstimmung der Angst und wie seine älteren Brüder sie reproduzieren: 

„It‘s a static picture, of course, so we can‘t see that the Mummy‘s hands are shaking because she knows that the Daddy has spent all afternoon in the pub and has come home in one of his ‚tempers‘ (because that‘s what Daddies do). If, during tea, one of the Big Brothers speaks with his mouth full or puts his elbows on the table, the Daddy has been known to knock him clean off his chair. The Mummy will start shouting at the Daddy about this, but of course she can‘t shout as loud as the Daddy. No one can shout as loud as the Daddy or is as strong as the Daddy which is why the Daddy is in charge. The Little Brother will start crying at this point and will most likely be told to shut up by the Big Brothers who are themselves trying not to cry because that‘s another thing that they‘ve learned doesn‘t go down well with the Daddy.“ (S. 28)

In mehrfacher Hinsicht kontextualisierend räumt Webb wenig später ein: 

„You might be thinking ‚this is nothing‘ compared to your own experiences with a domestic hard-case. (…) The truth is, we were all terribly afraid of him. In any case, Mum was probably just biding her time at that point. She had already made her plans. Before the end of that first school year, she divorced him and he moved out.“ (S. 31)

Die Konstellation der Gewalt in Louis Familie folgt einer komplexeren patriarchalen Logik. Der Vater hat hier ausgehend von den gewaltvollen Erfahrungen mit seiner Familie den Grundsatz gefasst, auf die körperliche Züchtigung seiner Familie zu verzichten und hält sich auch daran. Als ihm von dem jungen Édouard mitgeteilt wird, dass dessen Mutter – seine Frau – dem drogenabhängigen Bruder hinter seinem Rücken Geld gibt, eskaliert die Situation:

„Mein Vater explodiert, er kann sich nicht zusammenreißen, wenn er belogen wird, dreht er durch. Er schmeißt sein Rotweinglas auf den Boden, es zerschellt, (…) er schreit so laut, dass meine Mutter Angst bekommt, sogar sie bekommt Angst, die sonst, an allen anderen Tagen ihres Lebens, immer wieder sagt, sie werde sich nie vor einem Mann fürchten (…). Er schreit weiter, jetzt gerät auch meine Mutter außer sich, sie keift, 'Bist du jetzt völlig irre oder was, ich warne dich, wenn eines meiner Kinder auch nur einen Glassplitter abkriegt, dann erwürg ich dich, dann bring ich dich um', mein Vater schlägt mit Fäusten auf die Wand ein (…)“ (S. 56)

Die vom Vater geäußerte Zuschreibung, wonach sein Sohn ein Versager sei, hebt den Konflikt auf eine noch höhere Eskalationsstufe: 

„Und da, beim Wort Versager, springt mein Bruder auf und greift meinen Vater an, er schlägt ihn, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er schleudert meinen Vater gegen die Wand, mit all seiner Masse, seinem Gewicht, Schmerzensschreie, Flüche, Schmerzensschreie. Mein Vater wehrt sich nicht, er will seinen Sohn nicht schlagen, er tut nichts. Mir fielen die warmen Tränen meiner Mutter auf den Kopf, ich dachte: Geschieht dir recht, geschieht dir recht – sie versuchte immer noch, mir die Augen zuzuhalten, aber ich blinzelte zwischen ihren Fingern hindurch, ich betrachtete die roten Blutflecken auf den gelben Bodenfliesen.“ (S. 57)

Selbst im Reflexionsmodus des autobiographischen Textes gibt Louis sich nach wie vor die Schuld an der Gewalteskalation. Im Vergleich zu Webb tritt hier der gesellschaftstheoretisch geschulte Blick hinter die Selbstbezichtigung zurück. Die Erwähnung der gelben Bodenfliesen könnte in einem anderen Kontext gar als ein sich lustig machen über die innenarchitektonischen Entscheidungen eines Arbeiterhaushaltes funktionieren. Hier bilden sie ein starkes literarisches Motiv und kontrastieren die Gewaltsituation mit der Entscheidung über die Farbe der Fliesen, die in einem bürgerlichen Haushalt vielleicht anders getroffen worden wäre. 

Erzählstrategie Humor

Es würde nicht ganz zutreffen, Webbs How Not To Be A Boy als ausschließlich humoristisches Werk zu bezeichnen. Webb nuanciert seine Erzählstrategien, ist zuweilen ernst bis tragisch, etwa bei der Schilderung der Erkrankung und des Todes seiner Mutter oder der bereits weiter oben zitierten Schilderungen häuslicher Gewalt. Gerade in der humoristischen Darstellung gelingt es Webb, die Themen Klassenaufstieg, Habitus und hegemoniale Männlichkeit pointiert zu verhandeln. In der Einleitung findet sich ein Dialog zwischen Webbs 15jährigem und seinem 43jährigen Ich. Nachdem die Frage, wie es nur geschehen konnte, dass der 43jährige Webb nur noch vergleichsweise wenige Haare auf dem Hinterkopf habe, vorerst geklärt ist, geht der Dialog wie folgt weiter:

 „15: You sound quite posh.
43: Ah yes. Well, that was your idea. You want to sound like Stephen Fry, don‘t you? 
15: What‘s wrong with that? 
43: Nothing. I mean its a bit - 
15: Look, I just don‘t want to sound like fucking Dad, all right? I want to be the opposite of Dad. 
43: You‘ve just said two different things and the second one is impossible. 
15: Worth a try.
43: Waste of time. Close your eyes and don‘t think of a pink elephant. 
15: What? 
43: Close your eyes and don‘t think of a pink elephant. 
15: OK … (closes eyes) 
43: What are you thinking of? 
15: A pink elephant. 
43: You‘ve got – you can open your eyes now – you‘ve got this idea of Dad as an abrasive northern male with an over-developed sense of adventure who takes women for granted and drinks too much. And you‘re about to spend twenty-five years trying to be ‚not that‘.“ (S. 15)

Wie schon weiter oben spielt die Sprache und die selbstgewählte Veränderung ebendieser im Rahmen des Klassenwechsels eine Rolle. Was Webb als überentwickelten Sinn für Abenteuer beschreibt, wird bei Louis gesellschaftlich im Kontext der ökonomischen Zwänge, denen sich Männer in der Arbeiterklasse fügen müssen, verortet. In direkter Ansprache wendet sich Louis an seinen Vater: 

„Du hast mit aller Macht darum gekämpft, jung zu sein, fünf Jahre lang, bist nach Südfrankreich gezogen, dachtest, dort unten ist wegen der Sonne das Leben schöner, weniger beschwerlich, du hast Mopeds geklaut, ganze Nächte durchgemacht, getrunken, so viel es ging. Du hast all das so intensiv und so aggressiv wie nur möglich gelebt wegen der Empfindung, dass es etwas war, das du stehlen musstest – genau, darauf wollte ich hinaus: Den einen wird die Jugend geschenkt, den anderen bleibt nichts anderes übrig, als sie sich zu stehlen. Eines Tages war es vorbei. Ich glaube, es lag am Geld, aber es war nicht nur das allein.“ (S. 36-37)

Webb schafft es mittels des Einsatzes humoristischer Darstellungsweisen, der männlichen Zurichtung in der Kindheit und den Widerstandsversuchen dagegen die Tragik zu nehmen. Er beruhigt sein 15jähriges Ich und nimmt den Druck aus der Situation. Das Gegenteil seines Vaters zu sein ist nicht möglich und sich ebendas als Ziel zu setzen ein aussichtsloser Kampf. Denn zwischen totaler Identifikation und totaler Ablehnung existiert viel Spielraum. Polemisch ließe sich hier anmerken, Webb als überzeugter Sozialdemokrat, betont die Spielräume im System. Das letzte Wort in Wer hat meinen Vater umgebracht ist hingegen „Revolution“ (S. 77) – ausgesprochen vom Vater selbst als politische Notwendigkeit.

Erzählstrategie Anklage

Die humoristische Erzählstrategie ist der individuellen Selbstreflexion dienlich, der dramatische Erzählstil der gesamtgesellschaftlichen Umwälzung. Louis formuliert sehr klar, was es bedeutet, den herrschenden Verhältnissen nicht vermittelt, sondern direkt und körperlich ausgesetzt zu sein. 

„Die Herrschenden mögen sich über eine Linksregierung beklagen, sie mögen sich über eine Rechtsregierung beklagen, aber keine Regierung bereitet ihnen jemals Verdauungsprobleme, keine Regierung ruiniert ihnen jemals den Rücken, keine Regierung treibt sie jemals dazu, ans Meer zu fahren. Die Politik verändert ihr Leben nicht oder kaum. Auch das ist eigenartig: Sie bestimmen die Politik, obgleich die Politik kaum Auswirkungen auf ihr Leben hat. Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage: eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. Für uns ist sie eine Frage von Leben und Tod.“ (S. 71)

Louis Vater hat überlebt, aber er ist schwer gezeichnet und chronisch krank aufgrund der körperlichen Arbeit, die er verrichten musste, um seine Familie ernähren zu können. Trotzdem zwingt ihn der französische Staat, sich weiter für Arbeitsstellen, die harte körperliche Arbeit von ihm fordern, zu bewerben. Zwar wurde er noch nicht – wie es der Buchtitel suggeriert – umgebracht, die Frage, wer an seinem frühzeitigen Tod schuld sein wird, ist allerdings klar beantwortet. Im Unterschied zu Webb setzt Louis wenig Hoffnung in selbstreflexive Prozesse und er macht sehr klar, sowohl von konservativer als auch sozialdemokratischer und liberaler Politik enttäuscht zu sein. Macron, Sarkozy und Hollande werden in Wer hat meinen Vater umgebracht persönlich und zugleich stellvertretend für die drei dominanten politischen Strömungen angeklagt. Er schildert den körperlichen Verfall des Vaters als Folge konkreter politische Entscheidungen, die während der drei genannten Präsidentschaften gefällt und von den jeweiligen Präsidenten öffentlich gerechtfertigt wurde. 

Fazit

„Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt“, schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer auf S. 40 der Dialektik der Aufklärung. Die Stärke beider besprochenen Autobiographien ist die Darstellung dieser kindlichen Zurichtung. Die politische Wirkmächtigkeit von Webb beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf eine Kritik der hegemonialen Männlichkeit und prominenter Vertreter der INCEL-Bewegung. Humor scheint dabei ein gutes Mittel zu sein, die Lächerlichkeit männlicher Inszenierung sichtbar zu machen und einen entspannteren Umgang als etwas, wovon alle profitieren, nahezulegen. Webb bricht mit dem Emotionshaushalt seines Vaters, was eine Folge der im Buchtitel angelegten Fragestellung zu sein scheint. Kategorien wie Klasse sind bei ihm – dem Aufsteiger aus der ländlichen ArbeiterInnenklasse – zwar präsent, allerdings eher als Fundgrube für satirische Beschreibungen bildungsbürgerlicher sozialer Praxen im Kontrast zu den familiär eingeübten sowie der Veränderung seiner Sprache im Zusammenhang mit dem sozialen Aufstieg. 

Louis hingegen tritt nicht nur als Verteidiger seines gewandelten Vaters auf, sondern auch als Verteidiger der Gelbwestenbewegung insgesamt. Er leugnet nicht den Rassismus und die Homophobie in der Bewegung, betrachtet es aber als positiv, dass von den Regierenden ignorierte Bevölkerungsgruppen nun den Herrschenden Angst machen. Ein Begriff von Antisemitismus und eine Kritik an antisemitischen Äußerungen in den Reihen der Gelbwesten bleibt jedoch bezeichnenderweise aus. Louis gelingt es, die diffuse Wut des zurückgelassenen Subproletariats formal zu übernehmen, und sie zu einer linken, antirassistischen und antihomophoben Wut, die sich gegen sozialdemokratische, konservative und liberale Präsidenten gleichermaßen richtet, zu transformieren. Die Erzählstrategie der Anklage macht dies möglich. Ob sich aber nicht gerade die Absurdität der antisemitischen Feindbildkonstruktion in der Gelbwestenbewegung und ihre Wurzeln nicht besser mittels Humors zur Kenntlichkeit entstellen ließen, wäre zumindest eine Überlegung wert. Populäre Werke zeitgenössischer Kritiker des Antisemitismus wie etwa die Reiseberichte Tuvia Tenenbaums legen dies zumindest nahe. 

Literatur

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W./[Adorno, Gretel], Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Fischer: Frankfurt am Main 14. Auflage, 2003.

Louis, Édouard, Wer hat meinen Vater umgebracht, Fischer: Frankfurt am Main 2019. 

Wagner, Florian, „Die Gewaltverhältnisse und der Tanz in „Saturday Night Fever“, „Flashdance“ und „Footloose“, in: Binder, Sarah/Kanawin, Sarah/Sailer, Simon/Wagner, Florian, Tanz im Film. Das Politische in der Bewegung, Verbrecher: Berlin 2017. 

Webb, Robert, How Not To Be A Boy, Canongate: Edinburgh 2017.

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