Die von Michael Grisko herausgegebenen Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens (Reclam 2009) sowie die von Ralf Adelmann, Jan O. Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff und Matthias Thiele zusammengestellten Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft (UTB 2001) versuchen auf unterschiedliche Art und Weise einen Kanon zur Theorie, Geschichte und Analyse des Mediums Fernsehen zusammenzustellen.
Während die Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens eher aus einer deutschen Theorietradition stammen, orientiert sich die Auswahl der Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft hauptsächlich an ursprünglich englischsprachigen Überlegungen. Wie selbstverständlich-patriarchal der Mainstream der Fernsehwissenschaft nach wie vor aufgestellt ist, veranschaulichen beide Sammelbände - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Den Vogel abgeschossen hat Michael Griskos Textsammlung, in der mit "Zeitrationalität der Fernsehnutzung als Zwang und Emanzipation" von Irene Neverla nur ein einziger Text von einer Frau abgedruckt ist. Immerhin drei von Frauen verfasste Aufsätze finden sich bei Adelmann/Hesse/Keilbach/Stauff/Thiele: "Fernsehen im Kreis der Familie" von Lynn Spigel, "Die Rhythmen der Rezeption" von Tania Modleski und "Zuschauer, verzweifelt gesucht" von Ien Ang.
Überlegungen der Kritischen Theorie werden in Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft kaum einbezogen, sieht man von kurzen Anmerkungen in Einleitungen und Fußnoten ab. In Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens sind Theodor W. Adornos "Prolog zum Fernsehen" sowie "Fernsehen als Ideologie" zwar abgedruckt. In der Einleitung reproduziert Grisko allerdings das gängige Rezeptionsmissverständnis, es handle sich dabei um "kulturpessimistische Analysen" (S. 20).
Problematisch an Griskos Sammelband ist die Reproduktion von Texten, die von Autoren mit einem Naheverhältnis zum Nationalsozialismus stammen. Etwa ein Aufsatz von Gerhard Eckert, der 1941 mit einer Schrift namens "Rundfunk als Führungsmittel" habilitierte. Die NSDAP Mitgliedschaft von Werner Pleister, von 1952 bis 1959 Fernsehintendant des NWDR/NWRV - Vorläufer von NDR und WDR - wird von Grisko zwar erwähnt, aber nicht weiter problematisiert.
Viele der in Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft gesammelten Arbeiten beinhalten durchaus interessante Thesen und innovative Fragestellungen, könnten allerdings auch halb so lang sein. In der Fernsehwissenschaft wird scheinbar gerne geschwafelt, bereits Gesagtes mehrfach wiederholt oder mit teils witzigen, teils entbehrlichen Anekdoten angereichert. Eine Gemeinsamkeit der Wissenschaft mit so mancher TV-Diskussion, ließe sich entschuldigend anmerken.
Trotz besagter Lücken gelingt den HerausgeberInnen der Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft die insgesamt interessantere Zusammenstellung, obwohl auch in Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens der eine oder andere lesenswerte Text zu finden ist. Letztlich sind aber beide Sammelbände ein Verweis darauf, dass eine brauchbare Textsammlung gesellschafts-, herrschafts- und ideologiekritischer Auseinandersetzungen mit dem Medium Fernsehen nach wie vor fehlt.
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