Samstag, 6. Juli 2013

Selbstmordattentäter im Kino (4): Der Raum der potentiellen Opfer

Alles für meinen Vater nimmt ebenso wie Paradise Now in den palästinensischen Autonomiegebieten seinen Ausgang. Jedoch führt Alles für meinen Vater bereits am Beginn eine Gleichberechtigung der Perspektiven ein. Mit einem establishing shot Tel Avivs und einer anschließenden Parallelmontage der morgendlichen Tätigkeiten der ProtagonistInnen, ist die Empathie des Publikums von Beginn an sowohl bei Tarek (Shredi Jabarin) als auch bei den BewohnerInnen der kleinen Seitenstraße.

Nachdem Tarek aus dem Auto aussteigt, seine Begleiter sich von ihm verabschieden und er sich zum ersten mal auf den Markt begibt, erfolgt ein Schnitt. Keren (Hili Yalon) ist zu sehen, wie sie sich ihrerseits auf den Weg zum Markt macht. In der darauf folgenden Szene begleitet die Kamera Tarek lose durch den Markt. Dabei sind immer wieder Gesichter der nichts ahnenden MarktbesucherInnen deutlich zu sehen. Auch Keren huscht kurz an Tarek vorbei, den sie zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht kennt. Ein Fernsehteam dreht gerade im dichten Gedränge einen Beitrag über das Obst- und Gemüseangebot und die MarktbesucherInnen. Kurz bevor Tarek auf den Zünder drückt, wird in sehr kurzen Abständen zwischen Tarek und den MarktbesucherInnen hin- und hergeschnitten. Die Bildsprache ist deutlich: Wäre der Zünder von Tareks Sprengstoffgürtel nicht defekt, hätte er eine große Zahl unschuldiger Menschen mit in den Tod gerissen. Menschen, denen der Film zuvor Aufmerksamkeit schenkt und mit denen sich das Publikum identifizieren kann.

Im Verlauf der Handlung lernen wir neben Keren – zwischen ihr und Tarek entwickelt sich eine Romanze – auch andere BewohnerInnen der Straße, in der sich ihr kleiner Laden befindet, kennen. Zentral ist die Figur Katz (Shlomo Vishinsky), der einen Elektroladen betreibt in dem Tarek zunächst nur einen neuen Zünder für seinen Sprengstoffgürtel kaufen möchte. Katz ist – auch wenn das im Film nie direkt angesprochen wird – Überlebender der Shoa. Des Weiteren von Bedeutung sind ein junger, zu rassistischen Vorurteilen neigender Polizist und seine Eltern, die ebenfalls in der Straße wohnen. Ersterer löst gegen Ende des Films den Polizeieinsatz aus, in dessen Verlauf Tareks Sprengstoffgürtel detoniert.

In Paradise Now dauert es 47 Minuten bis zum ersten Mal jüdische Israelis zu sehen sind. Said (Kais Nashif) geht auf eine Busstation zu, an der insgesamt sieben ZivilistInnen auf den Bus warten. Unter ihnen befindet sich auch eine Frau mit einem Kleinkind. Zwei Männer beäugen Said misstrauisch. Als der Bus an der Station stehen bleibt, entscheidet sich Said aus unbekannten Gründen dazu, nicht einzusteigen. Dies ist eine der wenigen Szenen des Films, in denen jüdische Israelis als ZivilistInnen zu sehen sind. Der Anschlag findet schließlich in einem Bus statt, der fast ausschließlich mit SoldatInnen besetzt ist. Dazu hält Ralf Schroeder in seiner Kritik fest:
"Die Terroristen werden beim Morden 'menschlich'; Said steigt nicht in den Bus mit dem kleinen Mädchen, sondern später zu den Soldaten. Soviel 'Skrupel' ist ebenso empirisch widerlegter Unsinn wie die Rede vom abstrakten Israel, wo doch die palästinensischen Mörder in Radio, Fernsehen und Zeitung ganz konkret gegen 'die Juden' hetzten."
Eine weitere Chance für Paradise Now auch den potentiellen Opfern ein Gesicht und damit das Mitgefühl des Publikums zu geben, wäre der finale Aufenthalt von Said und Khaled in Tel Aviv gewesen. Die beiden sitzen in einem Auto, das von einem israelischen Komplizen der Terrororganisation gelenkt wird. Sie fahren auf der Stadtautobahn Tel Avivs. Zwar fahren Autos an ihnen vorbei, die InsassInnen sind jedoch nur verschwommen zu sehen. Später fahren sie an der Küste entlang, doch die Menschen, die dort flanieren, werden fast nur von hinten gezeigt. Es gibt keine Großaufnahmen von Gesichtern, die Kamera bleibt zumeist in der Totalen. Für eine Großstadt erscheint Tel Aviv erstaunlich menschenleer. Tobias Ebbrecht kritisiert diese inszenatorische Entscheidung:
"Man sieht sie [die Israelis, Anm.] nur aus der Ferne, als Figuren, nicht als Menschen. Keinen, ob den Zivilisten an der Busstation, den Soldaten im Bus, oder das kleine Mädchen beim Busfahrer, darf man näher kennen lernen, sonst könnten sie das Mitgefühl der Zuschauer wecken. Abu-Assad wählt in seinem Film konsequent nur die Perspektive des Selbstmordattentäters."
Alles für meinen Vater gibt den potentiellen Opfern von Selbstmordanschlägen Raum, gestattet es dem Publikum Mitgefühl zu empfinden und macht eine Identifikation möglich. In Paradise Now bleiben die potentiellen und auch die tatsächlichen Opfer anonym und das antisemitische Morden abstrakt.

Literatur
Ebbrecht, Tobias, "Der Selbstmordattentäter als mythischer Held. Hany Abu-Assads Film 'Paradise Now' porträtiert zwei palästinensische Selbstmordattentäter", in: Typoskript.net (Hg.), Kunstsinn & Barbarei. Judenmord verstehen lernen. Pressemappe zur Kritik an 'Paradise Now', Berlin 2005.
Schroeder, Ralf, "Moral War", in: Typoskript.net (Hg.), Kunstsinn & Barbarei. Judenmord verstehen lernen. Pressemappe zur Kritik an 'Paradise Now', Berlin 2005.

Selbstmordattentäter im Kino (1): Die Motivation der Attentäter
Selbstmordattentäter im Kino (2): Die Terrororganisationen
Selbstmordattentäter im Kino (3): Der Blick auf Israel
Selbstmordattentäter im Kino (5): Die Detonation

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